Die Kraft der Frühlingswiese

Die Frau und ich kennen einander schon eine Weile. Sie trägt schwer an ihrer Herkunftsgeschichte, in der sie auf verschiedenen Ebenen tief verletzt wurde. Trotzdem gedeiht in ihr eine erstaunliche Lebenskraft. Die ist eindrücklich sichtbar in der farbigen Kleidung und ihrem gepflegten Äussern. Sie ist verheiratet und hat zwei gesunde Töchter. Als sie mit der zweiten Tochter schwanger war, wurde bei ihr Brustkrebs festgestellt. Mit unglaublichem Willen gelang es ihr, die nötigen Behandlungen zu überstehen. Aber die Folgen der verschiedenen Therapieformen machen ihr bis heute schwer zu schaffen. Weitere Ableger liessen keinen guten Verlauf erhoffen. Trotzdem gelingt es ihr, sich immer wieder aufzurappeln und dem Leben zuzuwenden.

Unterdessen sieht es so aus, als ob die Krankheit zum Stillstand gekommen wäre.
Eines Tage beklagt sich die Frau bei mir über die Entzündung einer Zehe, die sie seit drei Monaten plagt. Sie ist deswegen in ärztlicher Behandlung, leider bisher ohne Erfolg. Nun hat sie genug vom leidigen Schmerz und möchte die Zehe amputieren lasssen. Beim Nachfragen kommt ihre Not zum Ausdruck. Wie gut kann ich verstehen, dass sie nicht mehr leiden will. Die Zehengeschichte hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Durch unsere Arbeit kennt sich die Frau gut aus mit der Bildsprache. Sie weiss, dass Bilder zu Wegweisern werden können und ist für ein Experiment bereit. Angeleitet durch meine Worte gelingt ihr eine tiefe Entspannung. Wir bleiben im Dialog und ich frage sie, ob sie ihre Schmerzstelle am Fuss genau beschreiben könne. Sie sieht das Bild eines abgestorbenen Baumstrunks. Genaue Hinweise auf Farbe und Form folgen. Ich wiederhole und beschreibe das Bild, das sie in Worte fasst. Dann wenden wir uns ihrer Vorstellung von Gesundheit und Wohlbefinden zu. Die Frau sieht eine saftig blühende Frühlingswiese von sattem Grün mit bunten Blüten vor sich. Ich frage sie, ob sie sich den Baumstrunk inmitten der Wiese vorstellen könne. Das kann sie durchaus. Im weiteren beschreibt sie, wie die feinen Wurzeln des dürren Baumstrunks mit der Frühlingskraft in der Erde in Kontakt kommen. Sie stellt erstaunt fest, wie die Wurzeln die Kraft aufzunehmen anfangen. Die Frühlingskraft wird zur Lebensenergie für den Strunk. Mit diesem Bild hört unsere Stunde auf. Tief berührt vom Bildgeschehen kann die Frau ihren Fuss mit den Hände umfassen und zustimmen, dass er ein wichtiger Körperteil ist, der zu ihr gehört.
Eine Woche später berichtet sie, dass die Entzündung an der Zehe zurückgegangen ist. Sie will an der Geschichte weitermalen. Auf einem neuen Blatt gestaltet sie einen Baum mit Ästen, Blätterdach und Früchten, es wird ein richtiger Prachtskerl.

Nach weiteren drei Wochen zeigt mir die Frau ihre vollständig geheilte Zehe.

Wir staunen beide. Auch ihr Arzt fragt nach, was denn geholfen habe und als sie über unseren Malprozess berichtete, wollte er Näheres wissen. Mit meinem Einverständnis lud sie den Arzt in unsere Malstunde ein. Er folgte der Einladung tatsächlich. Als Oberarzt und Mediziner der jungen Generation überrascht uns seine Spontaneität und Offenheit. Anfangs der Stunde zeigt die Frau ihre Bilder. Danach malen die beiden gleichzeitig, voller Hingabe. Im folgenden Gespräch erfahren wir, dass sich der Arzt für alles interessiert, was hilft und heilt. Was für ein freudvolles Erleben, wenn Menschen bereit sind über ihren Tellerrand hinauszuschauen: bereichernd und unvergesslich.

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